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27.02.2019

Physiotherapieausbildung – quo vadis?

Ein Gespräch mit Rocco Caputo, stellvertretender Schulleiter an der BFS f. Physiotherapie Günzburg und zuständiges Vorstandsmitglied im LV Bayern für den Bereich Professionalisierung/Ausbildungsfragen.

F: In den letzten Monaten haben sich im Bereich der Physiotherapie-Ausbildung speziell für die PT-Schulen einige gravierende Veränderungen ergeben. Zuerst hat das bayerische Kabinett die Schulgeldfreiheit beschlossen, dann hat Verdi on Top noch eine Ausbildungsvergütung durchgesetzt. Was bedeutet das für die Zukunft der Physiotherapie-Ausbildung?

A: Wir beobachten seit Jahren einige ungünstige Entwicklungen in unserem Berufsfeld. In den vergangen 10 Jahren ist die Zahl der Auszubildenden an Physiotherapieschulen stark zurück gegangen. In etwa in einer Größenordnung von 15%. Nicht nur die Bewerberzahlen sinken dabei, sondern die Schulen beklagen auch einen Rückgang der Qualität der Bewerbungen. Die Abschaffung des Schulgelds auf Druck von PHYSIO-DEUTSCHLAND war ein wichtiger Schritt, um die Ausbildung wieder attraktiver zu machen indem eine große Kostenhürde beseitigt wurde.
Darüber hinaus haben Ende Oktober 2018 die Tarifpartner ver.di und die Arbeitgebervertreter von Krankenhäusern eine Ausbildungsvergütung für fachschulische Ausbildungen im Gesundheitswesen vereinbart. Auch Berufsfachschulen für Physiotherapie sind von dieser Vereinbarung betroffen, wenn diese an Kliniken der Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TV-L) oder Kliniken im Tarifvertrag öffentlicher Dienst der kommunalen Arbeitgeber (TVöD-K) angesiedelt sind. Die Auszubildenden werden über den Tarifvertrag für Auszubildende der Länder (TVA-L) in die genannten Tarifgebiete einbezogen. Die Tarifeinigung wurde am 1.1.2019 wirksam, da die Widerspruchsfrist am 14.12.2018 ohne Einwände endete. In Bayern wird es deshalb künftig an acht oder neun Schulen eine Ausbildungsvergütung geben. Das bedeutet zunächst, dass die Ausbildungsattraktivität noch weiter gesteigert wird, weil nun auch finanzielle Anreize bestehen. Allerdings führt die derzeitige Regelung zu einer noch stärkeren Zergliederung der Ausbildung, was wir definitiv nicht wollen. Das muss unbedingt vereinheitlicht werden!
Wenn, dann müssen alle Auszubildenden in der Physiotherapie von der Schulgeldfreiheit und der Ausbildungsvergütung profitieren. Der Landesverband Bayern geht sogar noch einen Schritt weiter: Es reicht uns nicht, dass die Schülerinnen und Schüler an Fachschulen eine kostenfreie Ausbildung bekommen, wir fordern die Bundes- und Landesregierung auf, Regelungen zu schaffen, damit auch die Ausbildung an der Hochschule künftig grundsätzlich kostenfrei ist. Schließlich ist das langfristige Ziel die Überführung des Berufs in die Akademisierung.
Grundsätzlich sind Schulgeldfreiheit und Ausbildungsvergütung aber geeignet, erstmal wieder mehr Auszubildende an die Schulen zu bekommen.

F: Unabhängig von den äußeren Strukturen und den aktuellen finanziellen Anreizen: Die Ausbildungs- und Prüfungsverordnung, an der sich die PT-Schulen orientieren, stammt aus dem Jahr 1994 – wäre es nicht an der Zeit, auch mal inhaltlich einiges zu verändern und den aktuellen Gegebenheiten anzupassen?

A: Beim Berufsgesetz und der APrV ist es wirklich Zeit für eine größere Überarbeitung! Nicht nur inhaltlich, sondern auch strukturell. Immerhin geht es letztlich um eine zukunftsfähige, bedarfsgerechte und qualitätsorientierte physiotherapeutische Patientenversorgung. Es muss auch endlich unserer Forderung nach dem Direktzugang Rechnung getragen werden. Dazu ist es wichtig, dass therapeutische Kompetenzen bereits im Gesetz verankert werden. Die Ausbildung muss zu mehr Selbständigkeit und Eigenverantwortung befähigen und die wollen wir dann natürlich – bei guter interprofessioneller Kooperation - auch ausüben!
Die Bundesregierung hat sich im Koalitionsvertrag zum Ziel gesetzt, “hoch motivierten und hervorragend ausgebildeten Nachwuchs für die Gesundheitsberufe zu gewinnen”! Dazu will die Bundesregierung die Ausbildung der Gesundheitsberufe im Rahmen eines Gesamtkonzepts neu ordnen und stärken. Als Berufsverband nehmen wir die Politik beim Wort und sind bereits mit Hochdruck dabei, unsere Vorstellungen für eine Revision der Ausbildung einzubringen. Dazu gehören die folgenden Punkte:

1.    Flächendeckende Einführung berufsqualifizierender Studiengänge als reguläre Ausbildungsform.
2.    Grundlegender Revisionsbedarf der Ausbildung sowohl inhaltlich als auch strukturell.

  • Revision der Ausbildungsinhalte

  • Revision der praktischen Ausbildung

  • Revision der staatlichen Prüfung

  • Schaffung eines bundesweit gültigen Rahmenlehrplans

3.    Definition von Ausbildungsstandards für die Lehrerqualifikation sowie für Praxisanleiter.
4.    Etablierung einer Fachkommission, die im Auftrag des BMG regelmäßig die Ausbildungsinhalte auf Aktualität überprüft und eine Empfehlung ausspricht.


F: Der Verband fordert seit geraumer Zeit, dass die Physiotherapieausbildung akademisiert wird. Gleichzeitig wird die Schulgeldfreiheit aber als berufspolitischer Erfolg gefeiert und die Ausbildungsvergütung begrüßt. Wie passt das zusammen?

A: Zurzeit findet eine regelrechte Flucht aus unserem Beruf statt, weil weder die Ausbildung noch die Rahmenbedingungen für die Berufsausübung attraktiv erscheinen. Als kurz- und mittelfristig wirksame Maßnahmen sind die Beseitigung von Hürden wichtig, damit sich junge Menschen wieder für die Ausbildung in unserem Beruf zu begeistern. Aus diesem Grund haben wir uns für die Schulgeldfreiheit stark gemacht und begrüßen die Ausbildungsvergütung. Sie sind wichtige Initiativen, um wieder mehr Nachwuchs in die Ausbildung zu bringen.
Allerdings muss man auch feststellen: Blickt man ins europäische Ausland, so steht Deutschland mit seiner fachschulischen Ausbildung heute völlig alleine da! PHYSIO-DEUTSCHLAND setzt sich für eine an den zukünftigen Anforderungen einer hochwertigen Patientenversorgung orientierten Ausbildung ein. Dazu ist eine grundlegende Revision der Ausbildung, verbunden mit einer Anhebung auf Hochschulniveau dringend erforderlich. Im Sozialgesetzbuch Nummer 5 wird die Forderung nach Evidenz von Behandlungsmethoden erhoben. Evidenzbasierte physiotherapeutische Diagnostik und Therapie, die zunehmend komplexen Versorgungsbedarfen gerecht werden, erfordert eine wissenschaftliche Qualifikation von Physiotherapeuten. Wenn wir auf die künftigen Versorgungsbedarfe schauen, so werden die Herausforderungen deutlich. Die Zahl der multimorbiden und chronisch kranken Menschen steigt. Die Verlängerung der Lebensarbeitszeit auf künftig 67 Jahre bringt mit sich, dass Menschen länger arbeitsfähig bleiben müssen. Dazu kommt die Zunahme von Hochbetagten sowie eine steigende Zahl an psychischen Erkrankungen. An der Bewältigung dieser Herausforderungen wollen wir uns aktiv beteiligen. Physiotherapeuten sollen befähigt werden, sich am erforderlichen Strukturwandel des Gesundheitswesens zu beteiligen bspw. der Digitalisierung und Verbesserung der Kommunikations- und Versorgungsstrukturen. Dazu braucht es aber mehr - und zum Teil auch andere - Kompetenzen, als sie in der aktuellen Ausbildungsstruktur vermittelt werden. Bereits 2007 hat der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen die Diskussion um die Neuverteilung von Aufgaben im Gesundheitswesen angestoßen. Im Koalitionsvertrag wurde sie nun endlich durch die Politik aufgegriffen. Zwar immer noch viel zu zögerlich, aber immerhin hat man erkannt, dass eine Neuordnung der Ausbildungswege dringend erforderlich ist.

F: Mal angenommen, die Physiotherapie-Ausbildung findet zukünftig tatsächlich nur noch an den Hochschulen statt: Was bedeutet das für die Physiotherapeuten, die die klassische nicht-akademische Ausbildung absolviert haben? Gibt es dann zukünftig Physiotherapeuten erster und zweiter Klasse?

A: Mir ist in diesem Zusammenhang sehr wichtig, dass die Veränderungen eine breite Unterstützung der Berufsangehörigen erfahren. Das war auch der Grund, weshalb der Landesverband Bayern in den letzten 15 Monaten zwei Symposien zum Thema Ausbildungsstrukturen veranstaltet hat. Für uns war es sehr wichtig, dass somit jedem Mitglied die Möglichkeit eröffnet wurde, sich am politischen Meinungs- und Willensbildungsprozess aktiv zu beteiligen. Das Ergebnis zeigte, dass die generelle Anhebung der Ausbildung von den Teilnehmern befürwortet wird.
Diese wichtige Veränderung wird sich allerdings über einen gewissen Zeitraum hinziehen. Wir rechnen mit mindestens 10 bis 15 Jahren. Für alle, die ihre Ausbildung in dieser Zeit an der Fachschule absolviert haben, gibt es Bestandsschutz. Allerdings kann heute niemand sagen, wie deutlich die Unterschiede zwischen fachschulisch und hochschulisch ausgebildeten Physiotherapeuten ausfallen werden. Dazu sind unsere Akademiker noch zu kurz auf dem Markt präsent und natürlich ist auch deren Zahl noch zu gering. Ich persönlich gehe ich davon aus, dass langfristig die fachschulische Ausbildung gegenüber der hochschulischen die geringeren beruflichen Perspektiven bietet. Deshalb würde ich den jüngeren Kolleginnen und Kollegen mit Fachschulabschluss raten, die Chance zu nutzen und sich auch akademisch zu qualifizieren.